Teile des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes drohen, den Arbeitsmarkt zu deregulieren – zum Nachteil ausländischer wie einheimischer Beschäftigter. Um sich für die demografische Krise zu wappnen, sollte die Bundesregierung im Gegenteil auf gute Arbeit setzen.
von Susanne Ferschl
Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass irgendein Arbeitgeberverband vor den dramatischen Folgen des Arbeitskräftemangels warnt. Doch ein nüchterner Blick auf die Zahlen verrät: Von einem allgemeinen Arbeitskräftemangel kann in Deutschland derzeit (noch) nicht die Rede sein.
Auf 1,7 Millionen offene Stellen kamen laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit im Januar 2024 2,8 Millionen Arbeitslose. Rechnet man all jene Arbeitslose hinzu, die in der Statistik nicht auftauchen (über 58-Jährige, Arbeitslose in Weiterbildung, Ein-Euro-Jobber und so weiter), lag die tatsächliche Arbeitslosenzahl bei rund 3,6 Millionen Menschen.
Hinzu kommen weitere ungenutzte Potenziale wie beispielsweise das der sogenannten stillen Reserve, die bis zu 3 Millionen Menschen umfasst, die sich Arbeit wünschen, aus unterschiedlichen Gründen aber nicht unmittelbar einen Job antreten können. Oder das Potenzial der über 200.000 Jugendlichen, die nach der Schule keinen Ausbildungsplatz finden und in sogenannten Übergangsmaßnahmen festhängen. Oder das der über 700.000 Menschen, die unfreiwillig in Teilzeit arbeiten. Es bestehen also viele Potenziale, die die Bundesregierung bisher nicht zu heben vermag. Ein wirklicher Arbeitskräftemangel sieht anders aus.
Nicht von der Hand weisen lässt sich allerdings, dass sich Lücken am Arbeitsmarkt aktuell vor allem dort auftun, wo die Arbeitsbedingungen mies und die Löhne niedrig sind – und wo daher immer weniger Menschen arbeiten möchten. Beispielsweise auf dem Bau, in der Gastronomie und Hotellerie oder in der Pflege. Der ständige Alarmismus der Arbeitgeberverbände dieser Branchen ist also vor allem Ausdruck ihrer Angst, bald nicht mehr genügend Menschen zu finden, die sich zu Niedriglöhnen ausbeuten lassen.
Dass die Bundesregierung und das SPD-geführte Arbeitsministerium vor diesem Druck der Arbeitgeberseite einfach eingeknickt sind, belegen zwei Maßnahmen zur Fachkräfteeinwanderung, die dieses Jahr in Kraft treten: Die Ausweitung der Westbalkanregelung und die Einführung der sogenannten kurzzeitigen kontingentierten Beschäftigung. Beide Maßnahmen dienen, entgegen den Behauptungen von Regierung und Arbeitgeberseite, vor allem dazu, die Ausbeutung schlecht bezahlter ausländischer Arbeitskräfte zu maximieren – und das gerade zu einem Zeitpunkt, da man vor allem weitere Ausbildungsmöglichkeiten schaffen und die Tarifbindung stärken müsste.
Instrumente der Ausbeutung
Die kurzzeitige kontingentierte Beschäftigung steht seit ihrer Einführung im März qualifikationsunabhängig allen Drittstaatsangehörigen offen. Die Bundesagentur für Arbeit hat für sie ein Kontingent von 25.000 Arbeitskräften pro Jahr ausgewiesen. Als Zielbranchen wurden im Gesetzentwurf explizit Hotellerie, Gastronomie und Landwirtschaft genannt.
Die Regelung ermöglicht ausländischen Arbeitskräften eine befristete Beschäftigung in acht von zwölf Monaten pro Kalenderjahr. Zwar setzt sie Tarifgebundenheit der Arbeitgeber und Sozialversicherungspflicht voraus. Doch allein schon aufgrund der fehlenden Bleibeperspektive und der kurzen Aufenthaltsdauer ist davon auszugehen, dass Arbeitskräfte, die im Rahmen dieser Regelung nach Deutschland kommen, einem hohen Ausbeutungsrisiko ausgesetzt sind. Denn wer schlechte Bedingungen vorfindet, wird sie eher ein paar Monate über sich ergehen lassen, statt sich mit dem Arbeitgeber anzulegen und eine vorzeitige Rückkehr zu riskieren.
Im Juni wird dann das Kontingent der Westbalkanregelung von bisher 25.000 auf 50.000 jährliche Zulassungen verdoppelt. Von der Regelung profitieren bisher vor allem Arbeitgeber im Baugewerbe. Aber auch in der Gastronomie ist sie beliebt. Durch sie kann – ebenfalls unabhängig von der beruflichen Qualifikation – nach Deutschland kommen, wer eine Staatsangehörigkeit der Länder Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro oder Serbien besitzt und ein verbindliches Arbeitsplatzangebot vorweisen kann.
Weder müssen dabei bestimmte Gehaltsschwellen eingehalten werden, noch setzt die Regelung eine Tarifbindung der Arbeitgeber voraus. Der Aufenthaltstitel ist dabei unmittelbar an das Arbeitsverhältnis gebunden. Wer seinen Arbeitsplatz aufgrund schlechter Bedingungen kündigt, bringt damit seinen Aufenthalt in Gefahr. Wozu das alles führt, zeigt ein Blick auf die Entgeltstatistik: Fast 1.000 Euro lag der mittlere Lohn der Westbalkanbeschäftigten 2021 unter dem aller sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten in Deutschland. Mehr als ein Drittel von ihnen bekam gar einen Niedriglohn. Genau das ist prekäre Beschäftigung.
Über beide Instrumente sollen nach Ansinnen der Bundesregierung zukünftig 50.000 zusätzliche Arbeitskräfte pro Jahr nach Deutschland kommen. Das sind fast so viele Arbeitskräfte, wie durch alle Maßnahmen der Fachkräfte-, Erfahrungs- und Potenzialsäule zusammen kommen sollen – durch die Maßnahmen also, die den eigentlichen öffentlichkeitswirksamen Kern des neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetzes darstellen.
Und zukünftig könnten es noch viel mehr werden. Denn im Zuge der Novelle hat die Bundesregierung die Möglichkeit geschaffen, die Systematik der Westbalkanregelung kontingentunabhängig auch auf Migrationsabkommen mit anderen Staaten auszuweiten. Diskutiert wurde zunächst vor allem, Tunesien sowie Georgien und Moldau einzubeziehen – wobei die letzten beiden aufgrund des befürchteten Braindrains bereits abgesagt haben. Nach Wünschen der FDP soll die Regelung außerdem auf Gambia, Nigeria, Indien und die Gesamtheit der Maghreb-Staaten ausgeweitet werden.
Für eine solidarische Arbeitsmarktpolitik
Die Bundesregierung und Arbeitsminister Hubertus Heil sorgen auf diese Weise für einen fortwährenden Nachschub kaum geschützter und dadurch leicht auszubeutender Arbeitskräfte. Dadurch werden ausländische Beschäftigte verheizt, die Arbeitsbedingungen in den betroffenen Branchen immer weiter geschliffen und einheimische und ausländische Arbeitskräfte in eine unliebsame Konkurrenz zueinander gebracht. Welche ausländerfeindliche Kraft davon an den Wahlurnen vor allem profitiert, muss nicht weiter ausgeführt werden.
Anstatt dem Gezeter der Arbeitgeberverbände vorschnell nachzugeben und den Arbeitsmarkt auf dem Rücken ausländischer und einheimischer Beschäftigter weiter zu deregulieren, sollte der Arbeitsminister die Situation lieber nutzen, um ein für alle Mal mit dem Niedriglohnsektor im Land aufzuräumen. Er sollte den Druck konsequent an die wehklagenden Arbeitgeber zurückgeben und sie in die Pflicht nehmen, dem Arbeitskräftemangel zuallererst dadurch zu begegnen, dass sie endlich für anständige Arbeitsbedingungen und angemessene Löhne sorgen.
Probate Mittel gibt es dafür mehr als genug: Man könnte Leiharbeit und undurchsichtige Subunternehmerkonstrukte verbieten, Arbeitsschutzkontrollen deutlich erhöhen und ein umfassendes Programm verabschieden, um die Tarifbindung zu steigern. So könnte man ungenutzte Arbeitsmarktpotenziale mobilisieren und zugleich verhindern, dass Beschäftigte weiterhin aufgrund schlechter Bedingungen ihre Jobs aufgeben.
Gleichzeitig müssen Arbeitskräfte aus Drittstaaten – egal woher sie kommen und welche Ausbildung oder welchen Abschluss sie haben – konsequent vor Ausbeutung geschützt werden. Dazu braucht es einerseits angemessen hohe Gehaltsschwellen oder Tarifbindungsklauseln, wo das Ausbeutungsrisiko besonders hoch ist, und andererseits arbeitgeberunabhängige Aufenthaltstitel und dauerhafte Bleibeperspektiven.
Dann sind wir als Gesellschaft auch gut auf den wirklichen Arbeitskräftemangel vorbereitet, wenn er mit dem sukzessiven Renteneintritt der Boomer in den kommenden Jahren tatsächlich kommt. Denn welche ausländische Fachkraft geht schon freiwillig in ein Land, das vor allem für niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen bekannt ist?
Zuerst erschienen im Jacobin Magazin, 22.03.2024
Dumpinglöhne statt Zukunftsperspektiven | JACOBIN Magazin