Bundesregierung und Arbeitgeber wollen das Arbeitszeitgesetz aufweichen.

Der digitale Wandel eröffnet für Beschäftige neue Möglichkeiten, ihre Arbeitsabläufe und Arbeitszeiten selbstbestimmter zu gestalten. Zugleich bringt er eine «Ausdifferenzierung von Arbeitszeitstrukturen» (Schneider 2018: 33) mit sich, die eine Entgrenzung und Flexibilisierung im Interesse der Unternehmen und zulasten der Beschäftigten befördern. Wie werden diese gegensätzlichen Interessen und Ansprüche derzeit politisch verhandelt und welche Schlüsse können wir als Gewerkschafter*innen daraus für unsere Arbeit ziehen? Eines ist klar: Die Frage der Arbeitszeit wird zu einer der wichtigsten gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen der nächsten Jahre– und zugleich ein Gradmesser für die Stärke unserer Stimme in gesellschaftlichen Kämpfen.

Nahles «neuer sozialer Kompromiss»

Lange Zeit hat die Politik den digitalen Wandel lediglich als eine weitere Technisierung betrachtet und seine gesellschaftlichen sowie sozialpolitischen Umwälzungs- und Umverteilungspotenziale massiv unterschätzt – bis die damalige Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles im Frühjahr 2015 den sogenannten Dialogprozess Arbeit 4.0 startete. Auf Fachkonferenzen und Bürgerforen sollten die Gestaltungspotenziale des digitalen Wandels für die Arbeitswelt ausgelotet und konkrete Vorschläge erarbeitet werden. Schon während dieses Prozesses warb Nahles erstmals öffentlich für einen «neuen sozialen Kompromiss», der im Kern «ein Kompromiss über Schutz, mehr Souveränität sowie nötige und erwünschte Flexibilität in der Arbeitswelt sein» (Nahles 2016: 2) sollte. Die SPD-Politikerin setzte dabei auf soziale Marktwirtschaft und Sozialpartnerschaft als Gegenentwurf zum kalifornischen Raubtierkapitalismus à la Google und Amazon. Um dieses Modell «Made in Germany» für die digitale Zukunft fit zu machen, sei die faire Verhandlung über Flexibilisierungsbedürfnisse und potenziale von Arbeitgebern und abhängig Beschäftigten unerlässlich. Eine wesentliche Rolle spielt dabei das Arbeitszeitgesetz. Den Tarifpartnern soll künftig mittels Öffnungsklauseln ermöglicht werden, von gesetzlich vorgeschriebenen Arbeits- und Ruhezeiten abzuweichen, um neue Arbeitsformen auszutesten. Scheiterte dieser Plan in der letzten Groko noch am Widerstand der Gewerkschaften, steht es jetzt offiziell im Koalitionsvertrag: «Wir werden über eine Tariföffnungsklausel im Arbeitszeitgesetz Experimentierräume für tarifgebundene Unternehmen schaffen, um eine Öffnung für mehr selbstbestimmte Arbeitszeit der Arbeitnehmer und mehr betriebliche Flexibilität in der zunehmend digitalen Arbeitswelt zu erproben. Auf Grundlage von diesen Tarifverträgen

kann dann mittels Betriebsvereinbarungen insbesondere die Höchstarbeitszeit wöchentlich flexibler geregelt werden.» (CDU/CSU und SPD 2018: 52)Die Umsetzung dieser Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes steht aktuell noch aus. In anderer Hinsicht wurden hingegen bereits Tatsachen geschaffen. Ideologisch fallen sie ebenfalls unter Nahles’ Flexibilitätskompromiss und verdeutlichen, in welche Richtung die staatlich organisierte Aushandlung der gegensätzlichen Ansprüche ausschlägt. Da ist zum einen die Arbeitsstättenverordnung, die nach jahrelangem Gezerre Ende 2016 in Kraft trat – nachdem sich das Kanzleramt eingeschaltet und das Bundesarbeitsministerium dazu verdonnert hatte, die bereits abgestimmte Verordnung im Sinne der Arbeitgeberverbände erneut zu ändern. Dadurch sind Beschäftigte nun nicht mehr über den Arbeitgeber unfallversichert, wenn sie im Homeoffice arbeiten. Die erkämpfte Möglichkeit, zu Hause zu arbeiten, wird so gesetzlich beeinträchtigt, indem Betroffene sich selbst um ihre Versicherung kümmern müssen. Zum anderen wurde beim Gesetz zur Neuregelung des Mutterschutzrechts im Mai 2017 das Verbot von Nacht, Sonn und Feiertagsarbeit für Schwangere aufgeweicht. Künftig wird diese Arbeit erlaubt sein, wenn sich die Frauen «freiwillig» dafür entscheiden. Hier zeigt sich, wie abhängig Beschäftigte – unter dem Deckmantel des Eingehens auf ihre Flexibilitätsansprüche – vom Gesetzgeber in eine Lage gebracht werden, in der sie dem Willen des Arbeitgebers ausgeliefert sind.Diese Beispiele verdeutlichen, wie Schutzrechte zugunsten von Arbeitgebern geschliffen werden. Doch auch gesetzliche Verbesserungen mit Rechtsanspruch entpuppen sich als Luftnummern. Die seit Anfang 2019 geltende sogenannte Brückenteilzeit sollte als die gesetzliche Umsetzung des lange geforderten Rückkehrrechts von Teilzeit in Vollzeit Geschichte schreiben. Tatsächlich gilt sie allerdings aufgrund diverser Beschränkungen nur für einen sehr kleinen Teil der Beschäftigten: In über 96 Prozent der Betriebe gilt dieser Rechtsanspruch von Rückkehr von Teilzeit in die Vollzeit nicht, zwei Drittel aller arbeitenden Mütter sind davon ausgeschlossen. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) feiert dies als Erfolg: «Die Entscheidung über die Verteilung des Arbeitsvolumens bleibt in der Hand des Arbeitgebers.» (BDA 2019: 2)

Acht-Stunden-Tag demontiert

Nach der Festschreibung von Tariföffnungsklauseln im Regierungsprogramm gehen die Arbeitgeberverbände nun einen Schritt weiter und fordern die komplette Abschaffung der täglichen Höchstarbeitszeit. Künftig soll es möglich sein, dass acht Stunden Arbeit nicht mehr in achteinhalb Stunden, sondern innerhalb eines größeren Zeitraums von beispielsweise 15 Stunden geleistet werden. Der Hotel- und Gaststättenverband startete dazu im März 2017 die Kampagne «Höchste Zeit für Wochenarbeitszeit», mit der er für eine Umstellung von einer täglichen auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit wirbt. Die Kampagne stellt den Acht-Stunden-Tag als starr und veraltet dar und als «Gefahr für die Gastfreundschaft» (DEHOGA 2017). Der Rat der «Wirtschaftsweisen» legte nach und beschwor den wirtschaftlichen Untergang, falls der Acht-Stunden-Tag nicht bald falle. Welche Ziele dabei konkret verfolgt werden, verdeutlicht das BDA-Positionspapier «New Work» (BDA 2018), in dem gefordert wird, die gesetzliche Höchstarbeitszeit ebenso wie Dokumentationspflichten aus dem Gesetz zu streichen. Einzige Haltelinien wären eine gesetzliche 48StundenWoche sowie eine tägliche, reduzierte und nicht zusammenhängende Ruhezeit von neun Stunden (Piele/Piele 2017). Wer innerhalb dieses gesetzlichen Rahmens Verbesserungen durchsetzen will, muss sie tariflich aushandeln oder auf gute Betriebsvereinbarungen hoffen. Das wird angesichts eines gewerkschaftlichen Organisationsgrads von unter 20 Prozent und einer betrieblichen Interessenvertretung in nicht einmal jedem zehnten Betrieb schwierig.

Thema Arbeitszeit mobilisiert

Für linke Gewerkschafter*innen bietet der digitale Wandel die Möglichkeit, Verteilungsfragen neu zu stellen, insbesondere in Bezug auf die Arbeitszeit und die Frage, wann, wo und wie viel wir künftig arbeiten wollen. Derzeit ist viel in Bewegung und wir stehen mittendrin. Das Mobilisierungspotenzial ist enorm und wir konnten auf der tarifpolitischen Ebene schon deutliche Erfolge erzielen (siehe Beiträge von Reinhard Bispinck und Hilde Wagner). Die von den Gewerkschaften bei der Bahn, in der Metallindustrie und anderswo erkämpften Wahlmodelle sind ein echter Durchbruch für die Beschäftigten (Riexinger 2018). Ähnliches gilt für viele Betriebsvereinbarungen, die Arbeitszeiten konkret ausgestalten und helfen, an den Betrieb angepasste Lösungen zu finden (Massolle 2018). Diese Aktivitäten sowohl auf tariflicher als auch auf betrieblicher Ebene fußen auf einer gesetzlichen Grundlage und nicht zuletzt auf gesellschaftspolitischen Debatten, in denen wir sichtbar und überzeugend sein müssen. Diese entscheiden darüber, ob der Acht-Stunden-Tag als Norm entsorgt wird und ob Schutzrechte als veraltet angesehen und aufgeweicht werden. Dass wir dabei nicht nur gegen die Arbeitgeberverbände ankämpfen, zeigt ein Blick auf unsere europäischen Nachbarn, wo konservative und rechte Kräfte Umverteilung von rechts organisieren. Die rechte Regierung in Österreich hat die tägliche Ausweitung der Arbeitszeit auf bis zu zwölf Stunden und wöchentlich auf bis zu 60 Stunden beschlossen; die ungarische Regierung drückte mehr Überstunden durch (Schneider 2018). Auch in Deutschland gibt es derartige Vorstellungen, zum Beispiel bei der AfD, die variable monatliche Höchstarbeitszeiten einführen will. Gleichwohl dürfen wir uns nicht beirren lassen und unsere Idee einer emanzipatorischen Umverteilung von links weiterhin verfolgen – auch wenn nicht wenige sie als «Robin-Hood-Rhetorik» (Nahles 2016: 9) lächerlich machen wollen. Wir als Gewerkschafter*innen wollen alle Beschäftigten vertreten – egal ob es Ingenieure oder Paketbot*innen sind. Wir wollen durch eine Solidarisierung mit prekär Beschäftigten die gesellschaftliche Stimme im Kampf um unsere Schutzgesetze sein und uns für eine kürzere Vollzeit einsetzen. DIE LINKE fordert als einzige Partei eine gesetzliche Senkung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 auf 40 Stunden. Wir wollen die Zukunft gestalten – solidarisch und mitbestimmt. Wir wollen diskutieren, wie das Arbeitszeitgesetz als Schutzrecht auch im Zuge des digitalen Wandels Bestand haben und helfen kann, das Selbstbestimmungsrecht von Beschäftigten zu

 fördern. Wir wollen dabei den gesetzlichen Rahmen für alle Beschäftigten verbessern, auch um die tarifliche Ausgestaltung zugunsten der Beschäftigten zu stärken. Lasst uns diesen Weg gemeinsam beschreiten.

Die ganze Broschüre hier.

Literatur

BDA–Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (2018): New Work. Zeit für eine neue Arbeitszeit, unter: https://arbeitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/res/23DDAB5D5716F268C1258228003C5959/%24file/BDA_New_Work.pdf.

­BDA–Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (2019): Arbeitgeber Aktuell, Januar 2019, unter: www.arbeitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/res/3F85742C3B5E8B69C125838B00561EAF/«file/Arbeitgeber_aktuell_1_2019web.pdf.

CDU/CSU und SPD (2018): Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag 19. Legislaturperiode, Berlin.

DEHOGA – Deutscher Hotel und Gaststättenverband (2017): Höchste Zeit für Wochenarbeitszeit, unter: www.wochenarbeitszeit.de/.

Massolle, Julia (2018): Meine Zeit, mein Leben. Gute Praxis in der Arbeitszeitgestaltung – Projekt zum Deutschen Betriebsrätepreis der Jahre 2012–2017, in: Mitbestimmungspraxis 18/2018, Düsseldorf.

Nahles, Andrea (2016): Ein neuer sozialer Kompromiss für das Zeitalter der digitalen Transformation, unter: www.arbeitenviernull.de/fileadmin/Downloads/sozialerkompromisspapiernahles.pdf.

Piele, Christian/Piele, Alexander (2017): Flexible Arbeitszeiten – Arbeitszeitmodelle und Flexibilitätsanforderungen, Stuttgart.

Riexinger, Bernd (2018): Neue Klassenpolitik. Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen, Hamburg.

Schneider, Roland (2018): Innovative Arbeitszeitpolitik im Dienstleistungssektor, Working Paper Hans-Böckler-Stiftung Nr. 91, September 2018, Düsseldorf.