Liebe Kolleg*innen,

das Sondierungspapier liefert uns einen ersten Einblick, auf was wir uns bei der so genannten Ampelkoalition einstellen müssen. Eines muss uns allerdings klar sein: Die einzelnen Punkte werden im Rahmen von Koalitionsverhandlungen konkretisiert, können sich somit verschieben bzw. können neue Punkte dazu treten.  Für den Bereich Arbeit und Soziales scheint im vorliegenden Papier die Ampel allerdings auf gelb zu stehen. Das gesamte Papier könnt Ihr hier herunterladen.

Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes

Im Abschnitt über die „moderne Arbeitswelt“ taucht der Begriff „Flexibilität“ allein fünfmal auf. Deutlich wird, dass es darum geht, den Beschäftigten noch mehr Flexibilität abzuverlangen und das Arbeitszeitgesetz aufzuweichen. Denn explizit ist von den „Wünsche[n] von Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmern und Unternehmen nach einer flexibleren Arbeitszeitgestaltung“ zu lesen. Das Arbeitszeitgesetz ist, wie alle anderen arbeitsrechtlichen Bestimmungen, ein Arbeitnehmerschutzrecht. Wenn hier etwas flexibilisiert wird, ist das ein  Abbau von Schutzrechten. Die von der Ampelkoalition beabsichtigte flexible Gestaltung der Arbeitszeit im Rahmen von Tarifverträgen bedeutet, dass manche Regelungen im Arbeitszeitgesetz über Tarifverträge umgangen werden können. Außerdem soll die Vorgabe zur Tageshöchstarbeitszeit (§ 3 ArbZG) tarifdispositiv und betriebsvereinbarungsoffen werden. Arbeitgeber könnten dann mit dem Betriebsrat vereinbaren, dass eine tägliche Arbeitszeit von mehr als acht oder sogar zehn Stunden möglich wäre. Gewerkschaften und Betriebsräte werden damit erheblich unter Druck geraten, ausufernde Arbeitszeitmodelle zu ermöglichen. Obwohl bekannt ist, welche Gesundheitsgefahren von entgrenzter Arbeit ausgehen, fehlt im Sondierungspapier jeglicher Hinweis auf einen Schutz der Beschäftigten etwa durch eine Anti-Stress-Verordnung, wie sie Gewerkschaften und die LINKE schon lange fordern. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes hatte 2019 den deutschen Gesetzgeber aufgefordert eine verpflichtende Arbeitszeiterfassung zu regeln, auch das fehlt bei den Plänen der Ampelkoalition bislang völlig.

Die SPD hatte in ihrem Wahlprogramm noch ein Recht auf Nichterreichbarkeit gefordert. Die Grünen wollten Flexibilisierung nur zu Gunsten der Beschäftigten regeln. Davon ist im gemeinsamen Papier nichts zu sehen. Hier scheint sich die FDP mit ihren arbeitgeberfreundlichen Forderungen durchgesetzt zu haben. Interessant hierbei ist auch, dass die FDP zu Beginn der letzten Legislatur einen Gesetzesentwurf eingebracht hatte, in dem nahezu der gleiche Wortlaut zu finden ist wie im Sondierungspapier.

Im Unterschied zu anderen Teilen des Sondierungspapiers sind die Pläne zur Arbeitszeit bereits sehr konkret beschrieben. Wir müssen uns also auf jeden Fall darauf einstellen, dass der 8-Stunden-Tag und geregelte Arbeitszeiten in Gefahr geraten werden. Als Gewerkschafter*innen müssen wir diesen zentralen Punkt im Auge behalten, denn der 8-Stunden-Tag ist eine, wenn nicht die zentrale Errungenschaft der Arbeiterbewegung, die hier droht, mit einem Federstrich weggewischt zu werden. Ich finde, dass hiergegen mobilisiert werden müsste.

Erhöhung des Mindestlohns

Mit der Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes auf 12 Euro wird eine wesentliche Forderung der Linken umgesetzt. Nicht wie befürchtet in Kleckerschritten, sondern gleich im ersten Jahr im Rahmen einer einmaligen Anpassung. Allerdings ist eine Reform der Mindestlohnkommission nicht geplant. In der jetzigen Form besteht die Gefahr, dass der Mindestlohn auch in Zukunft wieder der Lohnentwicklung hinterherhinken würde. Außerdem müssten die Ausnahmen abgeschafft und die Einhaltung des Mindestlohns besser kontrolliert werden, dazu findet sich im Sondierungspapier nichts.
Was allerdings zu beachten ist: Von einer Mindestlohnanhebung in der Größenordnung würden nicht nur Millionen Beschäftigte profitieren, sondern würde wahrscheinlich auch ein Druck auf die Tarifverträge entstehen, da viele Lohngruppen unterhalb des neuen gesetzlichen Mindestlohnes liegen würden.

Ausbau prekärer Beschäftigung

Die Mindestlohnanhebung hätte auch Auswirkungen auf andere Bereiche, denn obwohl Grüne und SPD in ihren Wahlprogrammen noch planten Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zu überführen, findet sich im Sondierungspapier nichts mehr davon – im Gegenteil: Die Minijob-Grenze soll auf 520 Euro erhöht werden. Außerdem will man sie an die Entwicklung des Mindestlohns koppeln. Auch die Dynamisierung der Einkommenshöhe für geringfügig Beschäftigte ist ein lange gehegter Wunsch der FDP.  Minijobs sollen also auch für die Zukunft verstetigt werden. Zwar soll Missbrauch verhindert werden, aber im Sondierungspapier fehlen hier jegliche  konkreten Pläne.

Gleichzeitig sucht man vergeblich nach einer Abschaffung der sachgrundlosen Befristung und Eindämmung der Leiharbeit. Spannend wird sein, ob und was sich hierzu in den Koalitionsverhandlungen tut.

Gewerkschaften und Betriebsräte

Hier gibt es so viele wichtige Fragen, die eine kommende Bundesregierung unbedingt angehen muss. Tarifverträge müssen leichter für Allgemeinverbindlich erklärt werden und Gewerkschaften brauchen auch einen digitalen Zugang zum Betrieb, da sind sich die Expert*innen einig. Unternehmensmitbestimmung muss auch in ausländischen Gesellschaftsformen gelten und Betriebsräte brauchen mehr Mitbestimmungsrechte bei dringenden gesellschaftlichen Herausforderungen wie dem Klimaschutz, der Gleichstellung und der Digitalisierung und Arbeitsintensivierung. Bislang ist offen, ob es in den Koalitionsverhandlungen überhaupt zu einer substanziellen Umsetzungsvereinbarung hinsichtlich der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen kommen wird und was sich hinter der Floskel „Weiterentwicklung der Mitbestimmung“ verbirgt.

Soziale Sicherung:

Hier wird weiteren Rentenkürzungen durch eine Absenkung des Rentenniveaus und einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit eine Absage erteilt. Das ist erstmal gut so, wenn auch sehr defensiv, denn bereits jetzt reicht das Rentenniveau nicht aus, um vor Altersarmut zu schützen. Ganz offensichtlich haben sich Grüne und SPD von ihrer Forderung nach einer Bürgerversicherung verabschiedet. Auch die Finanzierungsfrage ist nicht eindeutig geklärt. Deutlich wird nur, dass ein Paradigmenwechsel in der Rentenpolitik eingeleitet werden soll und zwar der Einstieg in eine teilweise Kapitaldeckung der Gesetzlichen Rentenversicherung, auch dies wiederum ein Lieblingskind der FDP. In einem ersten Schritt soll ein aus Steuermitteln finanzierter Kapitalstock von 10 Milliarden Euro in der Rentenversicherung aufgebaut werden. Mit der zusätzlichen Möglichkeit für die Rentenversicherung, ihre Reserven künftig am Kapitalmarkt anzulegen, verabschiedet man sich häppchenweise von der Umlagefinanzierung und kauft sämtliche, damit verbundene, Probleme ein: Finanzmarktrisiken ebenso wie eine Ausweitung des renditesuchenden Kapitals.

Umbenennung von Hartz IV

Wenn es nach der Ampel geht, soll Hartz IV nun „Bürgergeld“ heißen. Das klingt auf den ersten Blick nach einer großen Reform, auf den zweiten Blick scheint es aber wohl bei kleinen Anpassungen bleiben. Vor allem, weil jegliche Aussagen zur Höhe des neuen Bürgergeldes fehlen – die Regelsätze sollen im kommenden Jahr bislang lediglich um mickrige 3 Euro erhöht werden. An den Mitwirkungspflichten soll festgehalten werden, womit wohl die Sanktionen gemeint sind. Zuverdienstmöglichkeiten sollen verbessert werden, weil ansonsten kein Anreiz für die Aufnahme von Erwerbstätigkeit bestünde. Eine wirkliche Verbesserung wäre es allerdings, Minijobs in sozialversicherungspflichte Beschäftigungen umzuwandeln. ALG II Bezieher*innen landen leicht in der Minijob-Falle, bei regulären Teilzeitjobs gelingt es dagegen viel häufiger die Arbeitszeit auszudehnen.  Zwei klare Verbesserungen – erhöhte Vermögensfreibeträge und eine Karenzzeit bei den Wohnkosten – sollen nur geprüft werden, auch hier ist interessant ob und was sich in den Koalitionsverhandlungen noch tut, ebenso, was die Ausgestaltung der geplanten Kindergrundsicherung anbelangt.

Gesundheitspolitik und  Pflege

Mit dem Sondierungspapier erledigen sich alle Hoffnungen auf ein Konzept einer „Bürgerversicherung“. Das duale Kranken- und Pflegeversicherungssystem mit gesetzlicher und privater Krankenversicherung bleibt unangetastet. Das enttäuscht auch im Hinblick auf die finanziellen Defizite bei den Krankenkassen, es werden auch keine Aussagen bezüglich einer möglichen Steuerfinanzierung gemacht. Darüber hinaus soll das „System der Fallpauschalen“ lediglich „angepasst“ werden, somit ist auch klar, dass es keine grundlegende Neuaufstellung der Krankenhausfinanzierung geben wird.
Es wäre zu begrüßen, dass die Ampel bundeseinheitliche Vorgaben für die Personalbemessungen in der Pflege machen will, aber mit der wachsweichen Formulierung im Sondierungspapier kann man wenig anfangen. Die Berliner Krankenhausbewegung hat erst kürzlich deutlich gemacht, dass hierin eine der zentralen Fragen im Bereich von Arbeit und Gesundheitsversorgung liegt. Auch eine „Offensive für mehr Pflegepersonal“ und „angemessene Löhne“ hören sich sehr gut an. Das Problem ist jedoch, dass keine Aussagen darüber gemacht werden, wie das finanziert werden soll. Wir brauchen die genannten Verbesserungen in der Pflege unbedingt. Wenn die Ampel aber nicht gleichzeitig klärt, wie sie finanziert werden sollen, ist nicht damit zu rechnen, dass viel davon auch umgesetzt werden kann.

Was ist unabhängig vom Sondierungspapier noch wichtig:

Das Bundesarbeitsgericht hat in einem aktuellen Urteil klargestellt, dass Arbeitgeber nicht das Betriebsrisiko für coronabedingte Schließungen tragen müssen. Das bedeutet, dass sie an Minijober*innen keine Entgeltfortzahlung leisten müssen. Hier wird deutlich, wie wichtig es wäre alle Beschäftigten in die Sozialversicherungssysteme einzubeziehen.

Die Fraktion Die LINKE im Bundestag hat im vergangenen Jahr ein großes Konzept zur Reform des Betriebsverfassungsgesetzes erarbeitet. Ihr könnt ab jetzt alle drei Kapitel auf unserer Webseite herunterladen. Wir werden dazu in Zukunft auch Anträge stellen und Veranstaltungen organisieren und freuen uns über jedes Feedback.

Einige Bundesländer haben schon einen Abschluss, in anderen befinden sich die Kolleg*innen im Einzelhandel weiterhin im Arbeitskampf, einige Bundesländer haben schon einen Abschluss. Die bisherigen Abschlüsse zeigen, dass die Forderung der Arbeitgeberseite in eine Spaltung der Branche und Pandemiegewinner und – verlierer erfolgreich abgewehrt werden konnte. Wichtig wäre nun die Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrages, aber die wird wohl wieder am Widerstand der Arbeitgeber scheitern.